Gourmelin

Der Schnitzel-Liebhaber
Pierre Gagnaire bescheinigt sich selbst gelegentliche Exzesse und hat damit weltweit zwölf Michelin-Sterne gesammelt.
Er liebt Essen und er liebt Jazz. Und er spricht über beides sehr gerne. Da kann es durchaus passieren, dass der Zuhörer kurz vergisst, zu welchem Thema sich Pierre Gagnaire gerade äußert. Der 63-jährige Franzose erzählt von der Verlockung, rund um ein Thema Neues auszuprobieren, immer kühner zu improvisieren, von der Angst, in ein Schema zu geraten, nicht mehr hinauszufinden. Seine größte Angst überhaupt sei das, hat der 61-Jährige kürzlich verraten. Der mit insgesamt zwölf Michelin-Sternen überhäufte Pariser Spitzenkoch sagt: “Bei mir soll man Ungewöhnliches essen, Produkte, die man kennt, aber so noch nie erlebt hat.” Darum geht es dem Franzosen mit dem meist zerzausten rotblonden Haar und den leuchtend blauen Augen. Dafür nimmt er in Kauf, dass er im Überschwang der Gefühle manchmal übers Ziel hinausschießt. “Gelegentliche Exzesse” räumt er ein. Aber deswegen Bewährtes wiederholen? Niemals. Nicht nur kulinarisch, auch geografisch muss es Neues sein. Wer und was ihn inspiriert, kann er nicht genau sagen: „Es gibt etwas, aber ich kann es nicht erklären. Präziser geht es nicht. Inspiration ist da, aber sie ist nicht erklärbar.“
Der „Picasso der französischen Küche“, wie er gerne bezeichnet wird, besitzt und leitet auf der ganzen Welt sehr erfolgreich Restaurants: Das legendäre „Pierre Gagnaire“ in der Pariser Rue Balzac ist konstant mit drei Michelin-Sternen dekoriert sowie mit 19 von 20 möglichen Gault Millau Punkten ausgezeichnet. Dazu kommen die Sterne-Restaurants „Sketch“ in London, das „Colette“ in Saint Tropez und das „Reflets par Pierre Gagnaire“ in Dubai ebenso wie weitere Feinschmecker-Paradiese in Hong Kong, Tokio, Seoul, Moskau, Courchevel und Las Vegas. Das Reflets, gesteht Gagnaire war am Anfang alles andere als ein Selbstläufer. „Dubai war zu Beginn ganz schwierig. Wir eröffneten mitten in der Krise und hatten 3, 5, 7 Couverts am Abend. Jetzt sind wir ständig ausgebucht, haben 100 Couverts am Tag und man sagt, das Reflets sei das beste Restaurant im Emirat.“
Pierre Gagnaire ist einer der einflussreichsten Köche der Welt und ein Vorreiter der Fusionküche. Pierre Gagniere kocht nicht, er zelebriert: Mit einer Kreativität und Lust am Experimentieren stellt der 61jährige viele seiner jüngeren Kollegen in den Schatten. Der Spitzenkoch hat nur einen Stil, nämlich seinen eignen und der ist unnachahmlich. Gagnaires Stil steht in keinem Kochbuch: „Ich arbeite nicht mit Rezepten, die ich ihnen an die Hand geben könnte. Aber die Leute, die mit mir arbeiten, wissen, wie ich vorgehe und denke, und sie eignen sich das an. Ich stehe immer hinter meinen Leuten und helfe ihnen, sich weiterzuentwickeln. Aber in der Küche ist man letztlich auf sich allein gestellt. Manche können das. Andere können es nicht. Leuten mit Talent kann ich einen Schlüssel an die Hand geben, aber kochen müssen sie dann schon selbst. Da liegt auch die Grenze meines Systems: Ich könnte nicht unbegrenzt viele Restaurants eröffnen, weil es nicht genug Köche gibt, die meine Art der Küche verkörpern können.“ Geschickt geht der Meister so der Frage oder Kritik aus dem Weg, dass da der Name an der Fassade nur noch ein Etikett sei. „Nein, nein, nein. Das stimmt einfach nicht. Ich bin seit 45 Jahren im Geschäft. Glauben Sie mir: Ich weiß, was ich tue. Ich weiß, wie es geht. Und ich habe die richtigen Leute, die es schaffen, in allen Häusern meine Küche zu verkörpern.“
Gagnaire ist in all seinen Restaurants präsent, nicht immer, aber regelmäßig: „Ich besuche jedes Restaurant mindestens drei Mal pro Jahr. Wenn ich dort bin, dann bin ich mit meiner ganzen Kraft an diesem einen Ort. Vor allem: Ich bin in der Küche. Mittags und abends, seit 35 Jahren. Das ist harte Arbeit. Ich sage: Arbeit, nicht Worte machen oder Konferenzen halten. Die Arbeit mit mir ist eine Chance für die Köche. Sie lernen von mir, und ich lerne von den Köchen. Jeder Tag bringt eine neue Geschichte. Nur durch die Arbeit in der Küche erreichen wir diese Qualität.“
Seine Küche reflektiert sein Leben, seine Gefühle und seine Erfahrungen und schafft dadurch einzigartige kulinarische Kompositionen für das Auge und den Gaumen, die alle seine Handschrift tragen. Dabei improvisiert und spielt Pierre Gagnaire mit Gerichten und Zutaten wie ein Komponist und das „Opus“ ist voller Kontraste, Überraschungen und Kontrapunkte.
Seit Januar dieses Jahres nun kocht Gagnaire auch in Berlin. Für das Restaurant “Les Solistes” im Waldorf Astoria schrieb er das Konzept und steht mehrmals im Jahr selber am Herd.
Gagnaires Küchen-Konzept ist einzigartig, er mischt und kombiniert, dass es selbst Gastro-Kritikern manchmal die Sprache verschlägt. Jakobsmuscheln werden hier mit Steckrüben kombiniert, koreanisches Kimchi mit französischem Küchen-Know-how neu interpretiert. Die Qualität der einzelnen Ingredienzien ist dabei durchaus bemerkenswert. Das Gesamtkunstwerk jedoch ließ selbst den anerkannten deutschen Restaurantkritiker Jürgen Dollase staunen. Gagnaires konzentrierte Aromen, ließ er verlauten, seien selbst für ihn oft am Rande dessen, was er noch aushalten könne. Eine Küche, die polarisiert – und Fachleute begeistert. Vermehrt wurde Pierre Gagnaire mit drei Sternen ausgezeichnet, Gault Millau verlieh ihm 19 von 20 Punkten und der Berliner Sternekoch Christian Lohse wie auch der Rheinland-pfälzische Drei-Sterne-Koch Christian Bau zählen Gagnaires Pariser Restaurant „Pierre Gagnaire“ zu seinen Lieblingsrestaurants weltweit.
Durch seine weltweiten Aktivitäten ist er ganz nah am Puls der Gastronomie: „Die ist derzeit im Umbruch. Es entsteht so viel Neues. Früher hat sich die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die französische Küche fokussiert. Das ist heute nicht mehr so. In Asien etwa entstehen sehr spannende neue Trends. Aber ich mag keine Konzepte und Festlegungen, weil sie mich davon abhalten, intensiv zu fühlen. Ich will auf mich selbst fokussiert bleiben. Auf das, was ich selbst in der Küche tun kann.“
Gagnaire ist eine vielschichtige und eigenwillige Persönlichkeit, wie sie unter den Köchen eher selten antreffen ist. In seinen Büchern finden sich oft detaillierte Gedanken rund ums Kochen. Oder besser: Sie dokumentieren bisweilen ein regelrechtes Ringen um die Materie. Was man von Gagnaire so gut wie nie bekommt, sind allerdings „richtige“ Rezepte, also die klassische Niederschrift nachvollziehbarer kulinarischer Konstruktionspläne.